© Spurensucher - 10. Februar 2018

Der Wellenbrecher von Gargantua

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Weil Riesen nicht anders können – Roche Gélétan


Ein populärer Mythos, der bei uns allerdings weniger bekannt ist: Gargantua gilt in lokalen Legenden und in ganz Frankreich als die Personalisierung einer gigantischen Energie, die für das ursprüngliche Chaos (vor allem der unerklärlichen Landschaftsbildung) verantwortlich sei. Als Riese veränderte er während seiner zahlreichen Reisen landauf landab die Landschaft, indem er den Inhalt seiner Kapuze entleerte, wo er gerade stand.

 

Der Autor
schuf in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts diese Roman-Riesenfigur, der man sich im Laufe der Zeit zunutze machte, um sich Felsanomalien an ungewöhnlichen Standorten zu erklären. Gargantua war demnach immer noch besser als gar keine Erklärung für zahlreiche "Natur"erscheinungen.

 

Die Ablagerungen seiner Schuhe sollen für Hügel verantwortlich sein, sein Gang hinterlässt Hohlräume oder Flüsse (er soll unter anderem die Bucht des Mont Saint-Michel geprägt haben). Viele der gefundenen Megalithen bezeichnet man als Gagantua-Pucs, die mitunter auch die Bezeichnungen Stühle, Sessel oder Schalen tragen. Man erkennt, dass Gargantua eine zusammengesetzte Figur ist, die alle antiken Gottheiten umfasst und die sich unter diesem Namen von der neuen Religion einfallsreich dämonisieren ließ. Gargantua bildet eine Wolke von Charakteren aus verschiedenen mythologischen Überlieferungen. Rabeleais ist zum Zeitpunkt der Renaissance immerhin nicht nur einfach Schriftsteller gewesen, sondern auch römisch-katholischer Ordensbruder der Franziskaner und Benediktiner. Möglicherweise war Gargantua ein Mittel zum Zweck.

 

Hinter dem gefräßigen und albernen Riesen verbirgt sich angeblich eine sehr alte gallische Gottheit namens Gargan, die gleichzeitig wohlwollend wie auch heroisch war und deren Erscheinung vielleicht auf eine Zeit vor der der Kelten zurückgeht… (letzteres lässt sich jedoch nicht zweifelsfrei belegen).

 

Portrait von François Rabelais (1483-553); verantwortlich für die "Riesen"geschichte,

>> Bildnachweis Wikimedia

 

 

 

Eine Felsenburg mit Struktur

 

Jedenfalls hat dieser Gargantua als Landschaftsgestalter in der Normandie aus mythologischer Sicht ganze Arbeit geleistet: 

Als junger Erwachsener, liebte es der Koloss, im Cotentin (der normannischen Halbinsel) zu wandern und manchmal Spuren zu hinterlassen. So heißt es zum Beispiel, dass er bei einem seiner Spaziergänge in der Gegend einen unerwünschten Kies aus seinem Stiefel entfernt und auf ein Feld gelegt hat. Noch heute ist dieser Felsen in der Gemeinde Saint-Germain-des-Vaux zu sehen, wo er unter dem Namen "Roche Gélétan" bekannt ist.

 

Genaugenommen befindet sich seine Hinterlassenschaft nicht nur auf einem Feld, sondern auch direkt am Meer. Es ist eine so ausgefallene Landschaftsanomalie, dass man sie kilometerweit vorher schon sehen kann, wenn man die Küste entlang kommt.

 

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Anomalie im Strandbereich: Der Roche Gélétan ist bereits von weitem als Felsenburg unübersehbar

 

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Je näher man herankommt, desto "zusammengestellter" wirkt die Felsenszene

 

Dass der Fels nicht erst dort seit gestern liegt, wissen wir spätestens seit 1994, als die Archäologin Denise Michel dort eine paläolithische Siedlung am Fuße des Felsens ausgegraben hat, die mindestens 200.000 Jahre alt war. Demnach eine archäologische Kultur der Altsteinzeit (die sog. Acheuleen), die sich durch das Vorhandensein von Faustkeilen ausgezeichnet hat. Solche Artefakte sind dort in den 90er Jahren eben dort auch gefunden worden. So soll sich dort eine Kultur von "Vor-Neandertalern" (300.000-200.000 v. Chr.) aufgehalten haben.

 

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Aus der Nähe betrachtet kommt man sich nicht nur erstaunlich klein vor, sondern sieht sich mit verrückten Gesteinsformationen konfrontiert

 

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Ausschnitt weckt Erinnerungen an Mount Rushmore Memorial …

 

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Der etwa 12 Meter hohe Felsen in unmittelbarer Nähe des Strandes liegt in La Hague, auf der nordwestlichen Halbinsel Contentin "am Rande einer antiken Meeresplattform …, wo sich … die von Denise Michel ausgegrabene Lagerstätte als äußerst reich an Werkzeugen und künstlichen Strukturen erwiesen hat. Die typologischen Daten auf der einen Seite und der geomorphologische und geologische Kontext auf der anderen Seite bieten einen Anreiz, diese Lagerstätte im oberen Acheuléen zu datieren", so der Autor J. P. Coutard.

 

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Beeindruckende Perspektiven und Bestandteile von allen Seiten; wirkt wie ein Patchwork aus zahlreichen Elementen

 

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Zahlreiche Konturen scheinen abgeschrägt oder abgekantet worden zu sein.

 

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Der vorgelagerte Felsen erinnert an den Kopf eines Wachhundes (Ansicht von beiden Seiten)

 

 

"Es handelt sich somit um eine der ältesten menschlichen Siedlungen, die in der Basse-Normandie untersucht wurden. 

Die Gliederung des Lebensraumes ist klar, es zeigt privilegierte Bereiche für den Bau von Unterkünften, die Nutzung von Feuerstellen - Verbrennungszonen und eng gelegene Feuerstellen - und den Feuersteinschnitt. Leider wurde der gut erhaltene Komplex durch die antike Schaffung einer Zufahrtsstraße zum Meer reduziert. Das dort entdeckte Werkzeug beinhaltet wunderschöne zweiseitige Artefakte: Rakel, Zahnstocher, Schneidwerkzeug und einen gewissen Prozentsatz an Hackwerkzeugen. Ein typologischer Vergleich mit Orgnac (Ardèche) ist denkbar."

 

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Der hohe Hauptfelsen von der Seite – praktisch akkurat dreigeteilt. Bekommen Frost und Erosionen so etwas hin?

 

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Was sagen die Geologen? Man spricht von kryoklastischen (Kopf-)Ablagerungen, also zu deutsch: Ablagerungen, die durch eiszeitlich bedingtes Hangkriechen verursacht wurden. Der Felsen befindet sich also in einer kleinen Bucht, der sich aus einer tektonischen Graniststruktur gebildet hat und mit marinem Restmaterial und einer kryoklastischen Hangablagerung gefüllt ist.

 

Mit anderen Worten: Eine eindeutige wissenschaftliche Erklärung für diese exponierte Felsstruktur gibt es nicht, die nach meinem Dafürhalten einige Anomalien aufweist. Im Zweifel kann man natürlich immer noch den Riesen als Alibi konsultieren … ;-)

 

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Bearbeitete Kanten, "Zungen", Plattformen – alles Einbildung?

 

 

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Die Felsen wirken teilweise regelrecht inneinander verschmolzen. Auch hier begegnet mir wieder der rote Felsen, der besonders häufig bei normannischen Dolmen vorkommt.

 

Wer Gelegenheit hat, die normannische Halbinsel zu besuchen, sollte sich an Ort und Stelle selbst ein Bild von diesem monumentalen Koloss machen.

 

 

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